Wie Café del Mar den Sound der 90s prägte
Ibiza, Sonnenuntergang, sanfte Beats – das Café del Mar wurde zur globalen Klangmarke der 90er. Hinter dem Erfolg steht eine Geschichte, die in dunklen Clubräumen begann.
Ibiza, Sonnenuntergang, sanfte Beats – das Café del Mar wurde zur globalen Klangmarke der 90er. Hinter dem Erfolg steht eine Geschichte, die in dunklen Clubräumen begann.
Einschalten, abtauchen, zurücklehnen - 90s90s CHILL OUT lässt den Sound von Café del Mar täglich neu aufleben.
In den frühen 90er-Jahren zitterten die Wände. Raves in verlassenen Lagerhallen, Clubs ohne Fenster, die ganze Nacht Strobo und BPMs weit jenseits der 130. Doch wer morgens vom Dancefloor taumelte, suchte nicht selten etwas anderes: einen Raum zum Durchatmen. In vielen Clubs entstanden Rückzugsorte – abgedunkelte Nebenräume mit Teppichböden, langsam pulsierenden Visuals, Räucherstäbchen in der Luft. Bildschirme, auf denen die Teletubbies liefen. Dort, wo der Dancefloor endete, begann das Schweben. Statt hämmerndem Techno liefen flächige Ambient-Stücke, frühe Dub-Techno-Experimente oder experimentelle Electronica von Aphex Twin oder The Orb. So wurde aus der Clubnische langsam ein eigenständiger musikalischer Kosmos.
Das Zentrum dieser neuen Stimmung lag nicht in London oder Berlin, sondern auf einer Terrasse am westlichen Rand von San Antonio auf Ibiza. Das Café del Mar existierte bereits seit 1980, doch erst als der katalanische DJ José Padilla 1991 das musikalische Zepter übernahm, fand die Bar ihren Sound. José Padilla entwickelte einen Stil, der nicht zur Nacht, sondern zum Sonnenuntergang passte. Sein Set war kein Mix, sondern eine Komposition aus Klangfarben – instrumentale Downtempo-Beats, weiche Synth-Flächen, Weltmusik-Samples, Vogelstimmen, Meeresrauschen.
1994 erschien die erste Compilation Café del Mar Vol. 1. Was als Soundtrack für Freunde gedacht war, wurde zum weltweiten Phänomen. José Padilla mischte eigene Stücke wie „Agua“ mit Tracks von Underworld und Leftfield. Diese erste Ausgabe war noch kantig, teils fast esoterisch, aber sie traf einen Nerv – gerade weil sie nicht glatt war. Die Compilation wurde über 100.000 Mal verkauft und legte den Grundstein für ein ganz neues Genre: Chill Out als akustisches Lebensgefühl.
In den Folgejahren kuratierte José Padilla weitere Ausgaben der Compilation-Reihe. Der Sound wurde eleganter, geschliffener – aber nie belanglos. Balearische Gitarrenläufe trafen auf House-Grooves, globale Percussion auf sphärische Streicher. Die Musik wurde zur akustischen Tapete für Sonnenuntergänge in Sydney, Rooftop-Bars in New York oder Hotel-Lobbys in Zürich. Aus einem lokalen Phänomen war eine globale Stimmung geworden.
Doch Chill Out war kein exklusives Inselprodukt. In Washington, D.C. arbeiteten Eric Hilton und Rob Garza an einem ganz eigenen Verständnis von entspannter Elektronik. Ihr Projekt Thievery Corporation verband lateinamerikanische Rhythmen mit Dub-Bässen, indische Sitar-Samples mit französischem Spoken Word. Ihre Musik war politisch, urban und doch zutiefst entschleunigt – eine kontinentale Variante des Café-del-Mar-Gefühls, die sich in Coffeeshops und Lounges von L.A. bis Tokio durchsetzte.
Zur gleichen Zeit in Wien experimentierten Peter Kruder und Richard Dorfmeister mit ihrem ganz eigenen Zugang zu Downbeat. Ihre legendären „K&D Sessions“ waren keine reinen Mixe, sondern kunstvoll arrangierte Soundreisen durch Dub, Jazz, Breakbeats und Soul. Ihre Remixe für Künstler wie Depeche Mode oder Roni Size gaben der Szene ein intellektuelles Fundament, ohne dabei an Leichtigkeit zu verlieren. Wien wurde zu einem der wichtigsten Labore für entschleunigte Clubmusik.
Und in München, scheinbar weit weg von Clubnächten und Balearen-Flair, lief beim Bayerischen Rundfunk plötzlich Musik, die direkt in dieselbe Richtung zielte. Die Space Night, ein nächtliches Fernsehformat mit ungeschnittenem NASA-Material, wurde mit eigens produzierter elektronischer Musik unterlegt. Millionen Zuschauer ließen den Fernseher laufen, während Komponisten wie Axel Heckert oder Christian Heller eine akustische Verbindung zwischen Orbit und Ozean schufen. Ohne es zu wissen, wurde eine ganze Generation an Chill Out herangeführt – nicht in Clubs oder auf Festivals, sondern vor dem heimischen Bildschirm.
Was als Rückzugsort für Techno-Nächte begann, wurde bald zur klanglichen Visitenkarte eines Jahrzehnts. Modehäuser luden Chill-Out-DJs zu ihren Laufstegen ein, Werbung nutzte die Musik als klanglichen Shortcut ins gute Leben. Songs wie „Porcelain“ von Moby oder „Lebanese Blonde“ von Thievery Corporation liefen plötzlich im Radio, in TV-Spots oder in Hollywood-Filmen. Chill Out war überall – und Café del Mar war sein Ursprung.
Bis zu seinem Ausstieg im Jahr 1999 veröffentlichte José Padilla sechs Café-del-Mar-Ausgaben. Jede davon trug seine Handschrift: weltoffen, emotional, mutig. Nach seinem Rückzug wurde das Projekt kommerzieller, der Sound kalkulierter. Doch der Ursprung blieb unvergessen. José Padilla selbst blieb dem Genre treu, tourte bis ins hohe Alter als DJ – und starb 2020 mit 64 Jahren an Krebs. Seine Musik aber lebt weiter – nicht nur in Erinnerungen an Ibiza-Sommer, sondern in jeder Playlist, in der der Beat einmal ganz bewusst aufhört zu drängen.